London, 2015: Zwei junge Fussballer werden dabei fotografiert, wie sie in einer Bar genüsslich an einer Shisha ziehen. Die Bilder finden schnell den Weg in die englischen Medien, schliesslich handelt es sich bei den Spielern um zwei «Rising Stars» des FC Liverpool. Raheem Sterling und Jordon Ibe heissen die beiden jungen Männer, denen zu diesem Zeitpunkt eine grosse Karriere prophezeit wird.
Während Ersterer seinen Vorschusslorbeeren gerecht wurde, verlief die Karriere des Zweitgenannten weniger linear. Am vergangenen Wochenende gab Ibe, mittlerweile 28-jährig, nach einer kurzen Absenz sein Debüt in der National League, der fünften englischen Liga. Die Geschichte von Jordon Ibe ist eine, wie sie im Profifussball oft geschrieben, aber selten erzählt wird.
Jordon Ibes Karriere startete verheissungsvoll. Von Charlton Athletic, einem Klub aus einem Arbeiterviertel im Südosten Londons, wechselte er 14-jährig in die Jugendabteilung der Wycombe Wanderers. Mit 15 gab er bei den Wanderers sein Debüt in der dritthöchsten englischen Liga, verzückte mit seinem Talent die Experten und machte den grossen FC Liverpool auf sich aufmerksam. Mit 16 Jahren wechselte er schliesslich zu den «Reds» nach Nordengland, wo er 2013, im zarten Alter von 17 Jahren, zu seinem Premier-League-Debüt kam.
Unter den Fittichen von Jürgen Klopp, der 2015 zu Liverpool gestossen war, schien Ibe nach Startschwierigkeiten bestens zu gedeihen. «Mit seiner Schnelligkeit ist er ganz anders als die meisten Spieler, die ich kenne. Jetzt hat er ein fantastisches Tor erzielt. Das ist alles ganz neu für ihn. Das ist sehr aufregend für einen so jungen Spieler», meinte der deutsche Trainer, nachdem Ibe 2015 in der Europa-League-Partie gegen Rubin Kasan seinen ersten Treffer für Liverpool erzielt hatte.
Auch der britische Eurosport-Experte Tom Adams würdigte das Talent des jungen Engländers mit nigerianischen Wurzeln, urteilte aber schon damals, dass ihm Raheem Sterling, der andere englische «Rising Star», einiges voraushabe: «Er hat tolle Fähigkeiten, auch wenn ein Vergleich mit Sterling hinkt. Ibe ist nicht so explosiv in seinen Sprints. Aber er ist clever, schnell und hat sehr gute Chancen, ein grosser Spieler zu werden.»
Der ehemalige Fussballer und Trainer John Aldridge schlug in dieselbe Kerbe, als er sagte: «Sterling ist natürlich ein sehr talentierter Spieler, aber Liverpool hat mit Jordan Ibe einen Top-Ersatz. Ich habe Jordan spielen sehen, seit er 15 Jahre alt war. Er ist ein grossartiger Spieler und hat jede Menge Potenzial».
Doch Jordon Ibe vermochte Sterlings Fussstapfen nie ganz auszufüllen. Während Sterlings Karriere mit seinem Wechsel zum Ligakonkurrenten Manchester City im Jahr 2015 so richtig Fahrt aufnahm, begann für Ibe eine Odyssee, die ihn von der Premier League bis in die fünfte englische Liga führen sollte.
Von Liverpool wurde Ibe zuerst in die Championship nach Birmingham City und Derby County ausgeliehen, bevor er auf die Saison 2016/17 hin zum Premier-League-Klub Bournemouth wechselte. Vier Jahre später stieg er mit dem Klub in die Championship ab. In der Abstiegssaison 2019/20 kam die einstige Zukunftshoffnung nur noch in zwei Partien zum Einsatz.
In den darauffolgenden Stationen bei Derby County in der Championship und bei Adanaspor in der zweiten türkischen Liga befand sich Ibes Karriere bereits im freien Fall. Bei Derby County kam er nur ein einziges Mal in einem Ernstkampf zum Einsatz, bei Adanaspor gar nie.
Nach dem erfolglosen Intermezzo in der Türkei trennte sich Adanaspor vom englischen Flügelspieler. Während Sterling bei seinem neuen Verein Chelsea noch immer zur Startformation gehört, stand Ibe zeitweise ohne Verein da. Nun steht er bei Ebbsfleet United wieder auf dem Platz. Der Verein aus Kent spielt in der National League, der fünfthöchsten englischen Liga. Mit dem halbprofessionellen «Non-League-Klub» kämpft Ibe um den Ligaerhalt.
Die Gründe, weshalb ein junges Fussballtalent die grossen Erwartungen nicht erfüllen kann, sind so individuell wie der Spieler selbst. Im Falle von Jordon Ibe dürfte seine psychische Gesundheit mitverantwortlich dafür gewesen sein, dass ihm der Sprung von einer Zukunftshoffnung zum Leistungsträger nie gelungen ist. 2021, als er noch für Derby County spielte, gab Ibe via Instagram-Story bekannt, dass er lange Zeit mit Depressionen zu kämpfen hatte.
«Ich war wirklich an einem Tiefpunkt. Ich sage das nicht, um in den Medien Aufmerksamkeit zu generieren, sondern deshalb, weil ich wirklich eine schwierige Zeit durchlebe», meinte er damals.
Vier Jahre lang habe er unter Depressionen gelitten, gab Ibe zu Protokoll und betonte, wie wichtig es für ihn sei, offen über seine psychische Gesundheit zu sprechen, nachdem er so lange geschwiegen hatte: «Ich weiss, wie schwierig es ist, darüber zu sprechen, aber ich wünsche mir, dass andere ebenfalls die Kraft dazu finden.»
Die sozialen Medien, so Ibe, würden gerade junge Spieler zusätzlich unter Druck setzen. «Als es um meine psychische Gesundheit nicht zum Besten bestellt war, fragte ich mich manchmal schon: Was, wenn die Kritiker auf Social Media recht haben?», erklärte Ibe das Phänomen und fügte an: «Die Kommentierenden wissen gar nicht, was für einen Einfluss sie auf das Leben eines Spielers und dessen mentale Gesundheit haben können.»
«Ich habe versucht, nicht mehr so viel Zeit auf Twitter oder Instagram zu verbringen, aber ich habe trotzdem mitbekommen, wie sich Leute über meine Karriere äusserten. Mit dieser Instagram-Story wollte ich auch allen zeigen, dass ich nicht nur zu Hause chille und entspanne.»
Depressionen interessiert es nicht, wer du bist, heisst es – und so bleiben auch Fussballer davon nicht verschont. Der ehemalige englische Nationalspieler Jack Wilshere sagte 2022 gegenüber der «Daily Mail», dass er oft nächtelang wach liege und mit negativen Gedanken kämpfe. Laut Wilshere sähen sich Fussballer mit der zusätzlichen Schwierigkeit konfrontiert, dass in der Gesellschaft die Wahrnehmung herrsche, dass Fussballer ja ein «tolles Leben» und somit keinen Grund hätten, sich zu beklagen.
Jesse Lingard reveals the problem with Man U today and why he moved to Nottingham Forrest@JesseLingard is no stranger to extreme pressure, but what do you do when it all gets too much and you’ve got the eyes of the nation on you?
— Steven Bartlett (@StevenBartlett) January 19, 2023
OUT NOW 👉🏽 https://t.co/Yksd0jYHNK pic.twitter.com/6rjBEkSRXu
Auch der ehemalige Nottingham-Forest-Stürmer Jesse Lingard sprach offen über psychische Herausforderungen und bestätigte gegenüber dem Guardian Wilsheres Eindruck: «Niemand wusste wirklich von meinen Problemen abseits des Spielfelds, also dachten sie: ‹Du bist ein Fussballer, du wohnst in einem schönen Haus, du hast Geld, du kannst alles meistern.› Aber wenn es um die Gesundheit geht, sind wir alle Menschen.»
Former Liverpool winger Jordon Ibe has just made his National League debut for Ebbsfleet United.
— Anfield Edition (@AnfieldEdition) February 3, 2024
Making his first league appearance in over a year, after suffering a battle with depression, we really hope Jordon can find some form and happiness. YNWA, Jordon ❤️ pic.twitter.com/AU7V58bHC2
Nach einer schwierigen Zeit hat Jordon Ibe nun also den Weg zurück auf den Fussballplatz gefunden. Von seinem in einem Interview im Jahr 2021 formulierten Ziel, «wieder in der Premier League zu spielen», ist Ibe aber weit entfernt.
Ich möchte jedoch auch betonen, dass (viele) junge Sportler sich und ihren Kollegen mit dem Gehabe in den sozialen Medien keinen Gefallen tun. Wie da 20,21 jährige Teils ihren Luxus zur Schau stellen ist meiner Meinung nach auch nicht gerade förderlich.